Worpswede by Rainer Maria Rilke
Autor:Rainer Maria Rilke
Format: epub
Tags: essay
Herausgeber: Carl Schünemann Verlag
Es genügt, kurz zu notieren, daà Otto Modersohn, neunzehn Jahre alt, Münster verlieà und die Akademie in Düsseldorf bezog, wo er vier Jahre arbeitete. Daà er dort eine liebevolle Teilnahme bei Professor Dücker und Fritz Mackensens Freundschaft gewann und mit ihm und Alexander Hecking im Jahre 1888 nach München kam. In München sah er Böcklins »Meeresstille« und das kleine, schmeichelnd weiche Bild in der Schackgalerie lange an, ging aber dann für ein Jahr zu Professor Baisch nach Karlsruhe, wo er ebenso unbefriedigt blieb wie früher in Düsseldorf. Das Resultat dieser letzten Jahre lautet, kurz zusammengefaÃt: es muà anders werden. Und nun ist zu erzählen, wie es anders wurde, ganz anders.
Worpswede begann; es ist schon gesagt worden wie. Es war von jenem Herbst die Rede, da drei junge Maler auf einer Brücke standen und nicht Abschied nehmen konnten; von dem Winter, der da kam mit langen Abenden und Gesprächen und mit Büchern, die man fürs Leben liebgewann; von dem anderen Winter in Hamburg und davon, daà keiner recht beginnen konnte. Auch für Otto Modersohn war es nicht leicht anzufangen. Wohl war ein Wunder geschehen. Eines von jenen Wundern, die geschehen müssen in jedem Künstlerleben, damit es sich ganz entfalten könne. Eine Sprache war ihm gegeben worden, eine eigene Sprache ... Aber nun lag die eigentliche Arbeit erst vor ihm. Er fühlte es vielleicht in den ersten Wochen schon, daà hier in der seltsamen, geheimnisvoll reichen Natur Worpswedes seine Sprache auf ihn wartete, er begegnete auf seinen Wegen tausend Ausdrücken für tausend Erlebnisse seiner Seele und er erkannte sie auf den ersten Blick. Hier war ein Land, mit dessen Dingen er sich sagen konnte. Hier waren Morgen voll Hoffnung und Heiterkeit und Nächte voll Sterne und Stille. Tage brachen an, in denen Unruhe war, Wucht und Sturm und die Ungeduld junger Pferde vor dem Gewitter. Und wenn es Abend wurde, so war eine Herrlichkeit in allen Dingen, gleichsam ein flutendes ÃberflieÃen, wie bei jenen Fontänen, bei denen eine jede Schale sich füllt, um sich rauschend in eine tiefere zu ergieÃen. Und immer, wenn dieser Ãberschwang verklungen war, kam eine Stunde, die noch nicht Nacht war und nicht mehr Tag. Der Glanz war noch da, aber er blendete nicht mehr. Er lag still an die Dinge geschmiegt und schien aus ihren Poren auszuströmen in die lautlos dunkelnde Luft. Eigentümlich vereinfacht waren die Konturen der Bäume; alles Kleinliche war von ihnen genommen. Und die Nachtigall, die in ihnen zu schlagen begann, erhob ihre Stimme; und ihre Stimme ging über die Ebene hin, als ob es die Stimme eines groÃen Vogels wäre.
Erinnerungen stiegen auf. Erinnerungen an Kirchen und Gärten, Könige und Kinder von Königen. Hier war alles wiedergefunden, was einmal so lieb und nahe und wichtig war; und alles war hier an jeder Stelle. Man muÃte nicht mehr von einem zum anderen gehen, von der Kirche in den Garten und vor die Stadt und in den Rathaussaal. Dieses Land hatte keine Historie gehabt. Aus langsam sich schlieÃenden Sümpfen war es aufgewachsen, und die Leute, die sich, arm und elend, darin niederlieÃen, hatten keine Geschichte.
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